Das Festival

Liebe Musikfreunde und -freundinnen,

wie nirgends sonst in Europa stehen in diesem Sommer in Münster und im Münsterland wieder die Holzbläser:innen im Fokus. Zum siebten Mal darf ich Sie, auch im Namen unserer 50 Kooperationspartner:innen vor Ort, zu unserem Musikfest „Summerwinds“ einladen. Es ist thematisch einzigartig und will Sie mit attraktiven Spielorten, hochkarätigen Musiker:innen und spannenden Programmen, die so sonst selten zu finden sind, dazu verführen, die alte Welt der Holzblasinstrumente und neue Musiken sowie Münster und das Münsterland zu entdecken. Und vielleicht entdecken Sie dabei ja auch sich selber ein wenig neu.

Inspirierende Konzertorte

Nicht allein die exzellenten Konzerte, so darf ich Ihnen versprechen, auch die Spielorte, die für unsere Region charakteristisch sind, werden Sie für sich einnehmen: auratische Säle und coole Venues, alte Mauern und neue Bauten – Oasen sie alle, die wir mit unseren Kooperationspartnern und -partnerinnen für erstklassigen Hör- und Sehgenuss behutsam in Szene setzen. Damit Sie ganz Ohr werden können, sich von der Musik berühren, erschüttern und anstecken lassen, auf sie mit Seele, Leib und Verstand antworten, mit ihr in Resonanz sein können.

Dafür aber ist es egal, wann und wo die Musik entstanden ist und ob das, was uns nahekommt, etwa eins dieser Etiketten trägt: Klassik, Crossover, Jazz, Latin, Klezmer, Weltmusik, Avantgarde, exotisches Traditional. Wenn wir sie hören, spricht und ruft uns Musik – wie ein Lächeln oder Tränen – über Zeiten und Kulturen hinweg an. Falls wir sie hören: eine Pause vom Alltag einlegen, sie für eine kurze Zeit zum Zentrum unseres Lebens machen und ihr antworten wollen. Wenn wir sie live erleben.

Live-Musik und Resonanz

Live ist Musik niemals, wie die aus der Konserve, autonom und abstrakt, sondern konkret und flüchtig. So wie der Augenblick, in dem die Musiker:innen sie machen, indem sie sich selbst ganz in sie hineinbegeben, trotz größter Konzentration den Einflüssen von außen preisgegeben, den Ereignissen vor Ort, des Tages, in der Welt ausgesetzt. All dies geht unmittelbar in ihr Spiel ein; nicht minder allerdings die Resonanz des Publikums, dessen Engagement und Energie die Musiker:innen auf der Bühne deutlich spüren. So bin ich als Zuhörerin selbst aktives Moment ihres Spiels. Niemals findet Live-Musik nur auf der Bühne statt. Man denke nur an diese knisternde Stille im Saal …

Internationale Interpret:innen

International gastierende Solist:innen und Ensembles, Große Namen, Rising Stars und solche, die (noch) ein Geheimtipp sind, eröffnen uns bei Summerwinds die reiche Klangwelt der woodwind instruments. In herkömmlichen, originellen und experimentellen Ensemblekonstellationen sind Vielfalt und Kreativität der Holzbläserszene zu erleben. Reine Holzbläser- und gemischte Kammermusik-Ensembles, Bands und Orchester treten auf mit Programmen, die einen Schwerpunkt auf unsere Favoriten legen. Ob Alte Musik, Mittelalter, Renaissance und Barock, oder Klassik, Romantik und 20. Jahrhundert oder Musik, die zu unseren Lebzeiten geschrieben wurde und in diesen Jahren entsteht: gewiss finden wir alle Stücke und Sounds, mit denen wir uns identifizieren können, die uns an- oder uns aus der Seele sprechen.

Es gibt nur eine einzige Musik

Dabei ist es vollkommen egal, in welche Genre-Schublade man eine Aufführung packen möchte. So stimme ich als Programmmacherin Darius Milhaud unumwunden zu: „Ich habe nie verstanden, wie man zwei verschiedene Sorten Musik – klassische oder moderne, ernste oder leichte Musik etc. – abgrenzen und festlegen kann. (…) Es gibt nur eine einzige Musik, und die kann man in einem Refrain im Kaffeehauskonzert oder in einer Operettenarie genauso gut finden wie in einer Sinfonie, einer Oper oder in einem Kammermusikwerk.“

Zwar liegt der Summerwinds-Schwerpunkt auf dem, was man, um sich flott zu verständigen, gemeinhin „Klassik“ nennt. Doch dieser Begriff ist ja offen und weit geworden. Eigentlich aber war er es immer schon. Denn die „klassischen“ Komponist:innen hatten weder Berührungs- noch Einflussangst. Vielmehr waren sie zu ihrer Zeit, zumeist physisch, ansonsten doch wenigstens medial – durch Abschriften, Drucke, Briefe und Bücher, Gespräche – in der Welt unterwegs und mit der Musik, die ihre Vorfahren geschrieben haben und ihre Zeitgenossen machten, vertraut. Aber nicht allein in aufgeschriebener, komponierter Musik suchten sie Inspiration und „frischen Wind“. Sie waren auch in der zumeist mündlich tradierten oder rudimentär nur notierten und improvisierten Volksmusik bewandert, in jener ihrer Mehrheitsgesellschaft genauso wie in den Musiken der Minderheiten, später in der Popularmusik, im Pop oder Mainstream, sowie in den diversen Musikstilen, die sich infolge der globalen Kolonisation entwickelt haben. Ein exemplarisches Beispiel aus dem Barock liefert Telemann, der in seinen Erinnerungen über die Musik in einer polnischen Kneipe schrieb: „Wenn man notieren wollte, was da alles gespielt wurde, dann hätte man nach einer Woche genug Ideen für den Rest seines Lebens. Wenn man das zum eigenen Vorteil zu nutzen versteht, lässt sich aus dieser Musik so viel Gutes gewinnen.”

Die Mischung macht’s

„Zum eigenen Vorteil nutzen“: Das ist – selbstverständlich im Idealfall – nicht Diebstahl in unlauterer Absicht, kulturelle Appropriation, ist nicht Aneignung dessen, das man „anders“ (als ich oder wir, der Maßstab von „Normalität“) nennt, ist nicht Enteignung des Fremden, dessen Einverleibung. Es ist vielmehr, im Idealfall, Anverwandlung aus Wertschätzung dessen und aus echter Liebe zu dem, das „anders“ hieß und zuvor fremd war. Verwandeln wir uns etwas an, werden wir per Einbildungskraft und Einfühlung zu diesem andren, bevor es zu unserem Eigenen wird – und das so uns selbst verwandelt. Ich bin viele und Vieles. Auch ein Werk der Musik hat viele Quellen. So wie ein spannendes Konzertprogramm.

Bei den Summerwinds erleben Sie gemischte Programme, die Stücke unterschiedlicher Musikstile kombinieren. Außerdem Ensembles, die Alte Musik historisch informiert aufführen oder sie updaten und aus Traditionals und Kunstmusik zeitgenössische „Weltmusik“ machen – in arabischer, jiddischer und sizilianischer Tradition. Es gibt Musik, die Jazz und Mittelalter oder Jazz mit Klassik, Elektronischem und Weltmusik in origineller Weise zu etwas Neuem fusioniert, und solche, die die Blockflöte für die Rockmusik entdeckt. Nicht zuletzt wird auch in den herkömmlichen Konzertprogrammen deutlich, dass niemand nur aus sich selber schöpft. Auch Genie ist viele, allerdings mit dem gewissen Etwas, das zu erklären uns wohl immer vorenthalten bleibt.

Vergessene Komponist:innen wiederentdeckt

Last but not least sind auch in anderer Hinsicht Entdeckungen zu machen. Zwar sind es wenige, doch umso mehr fallen sie in den Konzertprogrammen auf: Komponistinnen. Vor allem aber: sie haben faszinierende Musik geschrieben, die verdient, gespielt zu werden.

Clara Schumann (1819–1896) ist unterdessen allgemein bekannt, Grazyna Bacewicz (1909–1969), eine der wichtigsten polnischen Komponist:innen des 20. Jahrhunderts, hierzulande hingegen kaum. Ebenso die französische Pianistin und Komponistin Cécile Chaminade (1857–1944). Zu Lebzeiten renommiert, als Komponistin sogar in die Ehrenlegion im Rang eines Chevaliers aufgenommen, war sie nach ihrem Tod bald vergessen. Ihr Komponistenkollege Ambroise Thomas bemerkte zweideutig über sie: „Dies ist keine komponierende Frau, sondern ein Komponist, der eine Frau ist.“ Ekaterina Walter-Kühne (1870–1930) war Soloharfenistin des Marijnski Theaters und führte als erste Frau ein Harfenkonzert mit Sinfonieorchester in Russland auf. In den dortigen Salons war sie seinerzeit wegen ihrer Fantasien auf populäre Opern berühmt. Diese kursierten in Russland allerdings Jahrzehnte lang als Handschriften und erschienen erst um die Jahrhundertwende im Druck. Einen Wikipedia-Eintrag zu ihr konnte ich nicht finden. Johanna Senfter (1879–1961), die bei Max Reger studiert hatte, lebte sehr zurückgezogen, engagierte sich vor Ort in ihrer Heimatstadt Oppenheim für die Musik und geriet nach ihrem Tod in Vergessenheit: „Wäre ich keine Frau, hätte ichs leichter“, soll sie gesagt haben. Nicht alle haben die Lust und Kraft zu kämpfen. In den letzten Jahren wird jedoch ihr musikalischer Nachlass, der in der Musikhochschule Köln liegt, erschlossen, ihre Werke werden von verschiedenen Ensembles eingespielt und promotet. Und nicht zuletzt gilt es in Deutschland, Valerie Coleman (*1970) als Komponistin zu entdecken. Die fantastische Flötistin und Gründerin des Holzbläserquintetts Imani Winds, die in Louisville, Kentucky, im selben Stadtviertel wie der Boxer Muhammad Ali aufwuchs, verbindet in ihren Werken Jazz und Klassik und widmet sie häufig politischen und sozialen Themen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. feierte die Washington Post sie 2020 als „one of the Top 35 Women Composers“.

Zudem stehen beinahe vergessene deutsche Komponisten auf dem Programm, die ins Konzertrepertoire aufgenommen werden sollten. Andreas Romberg (1767–1821) und Bernhard Romberg (1767–1841), der Geiger und der Cellist, die Cousins, die in Münster aufwuchsen und zu Lebzeiten europaweit bekannte Virtuosen waren, dabei in ihren Konzerten primär ihre eigenen Werke spielten. Genauso wie der Flötist Anton Bernhard Fürstenau (1792–1852) eine Generation später, der in Münster aufwuchs und auch europaweit als Virtuose Karriere machte.

Schließen möchte ich mit den Komponisten, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft der Nazidiktatur zum Opfer fielen. An sie erinnern zwei packende Konzertprogramme. Der Münchner Paul Ben-Haim, geb. Frankenburger (1897–1984), wanderte früh genug nach Israel aus und wurde dort, indem er Elemente der jüdischen und arabischen Tradition in seine Musiksprache integrierte, Mitbegründer eines israelischen Nationalstils. Carl Frühling (1868–1937), zu Lebzeiten als Klavierbegleiter und Komponist erfolgreich, seine Werke wurden im Wiener Konzerthaus aufgeführt und im Rundfunk gesendet, starb 1937 in Armut. Von den Nazis wurde er totgeschwiegen. Robert Kahn (1865–1951) war in Berlin Kammermusikpartner der führenden Interpreten seiner Zeit. 1916 in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen, wurde er 1934 ausgeschieden. Im Dezember 1938 emigrierte er, ein bekannter Komponist, nach England. Danach war er bis zu seiner Wiederentdeckung um die Jahrtausendwende fast ganz vergessen.

Ob Bekanntes oder Unbekanntes, Herkömmliches oder Neues – immer sind unsere herausragenden Interpretinnen und Interpreten sowie die Spielorte der Summerwinds eine Konzertreise wert. Wir heißen Sie herzlich willkommen!

Ihre

Susanne Schulte